NRM: Herr Ludwig, was war Ihr erster Gedanke, als Sie vom
sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
erfahren haben?
Jan Ludwig: Bislang waren Fälle, in denen Arbeitnehmer
Überstunden bezahlt verlangten und dies auch gerichtlich durchsetzen
wollten, für Arbeitgeber oftmals relativ „dankbar“. Die Arbeitnehmer
sind insoweit voll in der Beweispflicht. Diesen Beweis zu führen war für
Arbeitnehmer bislang oft schwierig bis unmöglich. Dies ändert sich
jetzt ein Stück weit, zumindest was den Nachweis der Anwesenheit
anbelangt. Der nächste Gedanke war natürlich das Thema Bürokratie für
die Arbeitgeber. Aus Arbeitnehmersicht ist die Entscheidung natürlich zu
begrüßen.
NRM: Warum musste der EuGH überhaupt in dieser Sache entscheiden?
Jan Ludwig: Eine Gewerkschaft in Spanien hat gegen die
Deutsche Bank geklagt. Ziel war es, festzustellen, dass die Bank
verpflichtet ist, die Arbeitszeit der Mitarbeiter vollständig zu
erfassen. Es geht darum, die Einhaltung der Arbeitszeit kontrollieren zu
können, und auch, um die Bezahlung von Überstunden sicherzustellen. Da
das spanische Gericht einen Konflikt zwischen EU-Recht und spanischem
Recht gesehen hat, hat es den EuGH gefragt, ob die Rechtslage in
Spanien, die nur die Aufzeichnung von Überstunden fordert, mit
europäischem Recht vereinbar sei. Dies hat der EuGH verneint. Aus
deutscher Sicht ist dies auch von Interesse, da das deutsche
Arbeitszeitgesetz – abgesehen von Minijobbern und bestimmten Branchen –
bislang nur die Erfassung von Überstunden anordnet.
NRM: Was bedeutet das Urteil hier und heute für Unternehmen?
Jan Ludwig: Der EuGH hat entschieden, dass die bloße
Aufzeichnung von Überstunden nicht genügt, sondern dass die gesamte
Arbeitszeit zu erfassen ist, um überhaupt feststellen zu können, ob
Überstunden geleistet wurden. Unmittelbar ändert sich für die
Unternehmen zunächst nichts. Die Gesetzgeber in den Mitgliedsstaaten der
EU müssen jetzt gegebenenfalls tätig werden. Daraus werden jedoch
sicherlich gesteigerte
Aufzeichnungspflichten resultieren.
NRM: Wie könnte es denn nun konkret in Deutschland weitergehen?
Jan Ludwig: Zunächst ist der deutsche Gesetzgeber gefordert,
das Arbeitszeitgesetz anzupassen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat
hierzu bereits ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Im
Ergebnis könnte – so haben es die Richter des EuGH bereits angedeutet –
eine generelle Verpflichtung zur Zeiterfassung beispielsweise mit
Ausnahmen für kleinere Unternehmen kommen. Es gibt mehrere
Schwellenwerte, die hierfür übernommen werden könnten. Das
Kündigungsschutzgesetz greift z.B. erst oberhalb von zehn
Vollzeitkräften, einen Anspruch auf Brückenteilzeit gibt es erst bei
mehr als 45 Arbeitnehmern. Auch leitende Angestellte, für die das
Arbeitszeitgesetz nicht gilt, dürften wohl weiter ausgenommen bleiben.
NRM: Aus der Wirtschaft waren nach dem Urteil sehr kritische Stimmen zu lesen und zu hören: Sehen Sie auch Chancen
für Firmen?
Jan Ludwig: Es mag Fälle geben, in denen Mitarbeiter
Vertrauensarbeitszeit ausgenutzt haben. Insofern bietet die Einführung
einer Zeiterfassung natürlich Kontrollmöglichkeiten. Auch für die
längerfristige Personalplanung kann es nützlich sein, solche Daten zu
besitzen. Aus Sicht der Unternehmen dürfte jedoch der zusätzliche
Bürokratieaufwand im Vordergrund stehen und mögliche Schwierigkeiten
damit, Arbeit flexibilisieren zu können. Für die Zeiterfassung gilt es,
möglichst einfache technische Lösungen zu finden, die jedoch in vielen
Branchen, die bereits jetzt die Arbeitszeit voll erfassen, schon im
Einsatz sind.
NRM: Welche weiteren europäischen Urteile aus jüngerer Zeit sind für
Arbeitgeber bedeutsam?
Jan Ludwig: Zuletzt hat der EuGH z.B. entschieden, dass
Rufbereitschaft dann als Arbeitszeit anzusehen ist, wenn der
Arbeitnehmer verpflichtet ist, im Falle des Falles innerhalb weniger
Minuten im Betrieb zu sein. Die „Bewegungsfreiheit“ des Arbeitnehmers
ist in einem solchen Fall so stark eingeschränkt, dass von Freizeit hier
keine Rede mehr sein kann.
NRM: Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Jan Ludwig: Wichtig sind noch die Entscheidungen des EuGH zum
Verfall von Urlaubsansprüchen vom vergangenen Jahr. Der gesetzliche
Mindesturlaub von vier Wochen darf nicht mehr einfach zum Jahresende
verfallen, wenn der Mitarbeiter keinen Urlaub beantragt hat. Zumindest
sollten Arbeitgeber ihre Mitarbeiter regelmäßig darauf hinweisen, dass
sie Urlaub beantragen müssen und dass ansonsten der Urlaub verfällt. Ob
Arbeitgeber zur Vermeidung der Übertragung ins nächste Jahr sogar
verpflichtet sind, ihre Mitarbeiter in den Urlaub zu schicken, wenn
diese keinen beantragen, bleibt abzuwarten. Dieser Fall unterstreicht
die Bedeutung gründlicher Vertragsgestaltung. Im Arbeitsvertrag sollte
zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und dem vertraglich vereinbarten
Zusatzurlaub unterschieden werden. Sind z.B. 30 Urlaubstage vereinbart,
ist es zulässig, die zehn Urlaubstage, die über den gesetzlichen
Mindesturlaub hinaus gewährt werden, verfallen zu lassen und auch bei
der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht abzugelten. Dies muss
jedoch vertraglich geregelt werden. Daniel Boss |
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Zuerst erschienen im Niederrhein-Manager